Work is not a place anymore
5 Fragen, 5 Antworten — Ein Interview mit Martina Lewis.
Corona traf viele Agenturen wie ein Elektroschocker. Wie lautet deine Diagnose? »Halbseitig gelähmt« oder »Kickstart voll unter Strom«?
ML — Ich würde sagen: ein überfälliger Gedächtnisverlust. Das meine ich wirklich positiv. Normalerweise dauert es Generationen, bis sich Denk- und Verhaltensweisen in Unternehmen ändern. Corona hat dies innerhalb weniger Monate geschafft. Wäre die Situation schnell wieder im Griff gewesen, dann hätte sich langfristig nichts geändert. Die Strategie hätte gelautet: so schnell wie möglich zurück zum Bisherigen. Ich bin froh über die vielen sinnvollen, produktiveren, inklusiveren Wege der Zusammenarbeit, die sich unter Kollegen und mit Kunden wie von allein etabliert haben.
In welchem Punkt liegt für dich die größte Notwendigkeit für radikales Umdenken?
ML — Vor kurzem der Satz der auf meinem Rucksack steht: Work is not a place anymore. In den meisten Unternehmen und sogar Agenturen wurde Home Office bisher eher zähneknirschend geduldet. Nun ist es akzeptiert. Es ist normal. Die Menschen können Beruf und Privatleben besser miteinander vereinbaren. Heutzutage arbeiten beide Elternteile, Fahrten zur Arbeit sind oft ein großer Zeitverlust und verspannen einem den ganzen Tag. Dieser Aspekt hat mir selbst echtes Kopfzerbrechen bereitet, weil wir ein halbes Jahr vor dem ersten Lockdown damit begonnen hatten, unser Erdgeschoss auszubauen, um mehr Platz zu schaffen: für Meetings, Workshop-Spaces, Gemeinschaftsräume, alternative Arbeitsplätze für Teamwork, eine kreative Chill-Ecke. Wir haben uns damals intensiv damit beschäftigt, wie wir zukünftig in unseren Räumen arbeiten möchten und was wir dafür bei uns in der Agentur umbauen müssen. All diese Bemühungen waren von heute auf morgen nicht mehr relevant. Die letzten Möbel wurden während des ersten Lockdowns geliefert — und keiner war mehr im Büro. Nun stehen andere Fragen im Vordergrund: Wie geht es jedem Einzelnen in der (neuen) Situation? Was braucht jeder Einzelne, um gut arbeiten zu können?
Man arbeitet an unterschiedlichen Orten. Wie schafft man es als Geschäftsleitung, aus der Entfernung auf die Bedürfnisse jedes Einzelnen einzugehen?
ML — Das ist die wichtigste Aufgabe für uns als Geschäftsführer: gemeinsame Strukturen und gleichzeitig individuelle Freiheiten zu schaffen. Und damit meine ich nicht Teilzeitlösungen oder flexible Arbeitszeiten — die sind ohnehin schon völlig normal, auch für Führungskräfte. Mir geht es um die verschiedenen Menschen. Wir machen ein Mal im Jahr einen Persönlichkeitsworkshop mit dem gesamten Team. Dabei geht es uns darum, unsere Mitarbeiter, ihre Bedürfnisse und ihre Arbeitsweisen kennen zu lernen. Der Effekt ist überragend: Wir haben keine falschen Erwartungen an die anderen im Team. Wir wissen, was wir den Einzelnen zugestehen müssen, damit das Arbeiten ihrer Natur entspricht. Und die Leute kennen sich selbst.
Kann denn in der Distanz überhaupt eine enge Gemeinschaft entstehen bzw. erhalten bleiben?
ML — Schwierig. Kurzfristig ganz bestimmt. Aber man muss das Pflänzchen namens Gemeinschaft gießen. Die Zusammenarbeit bei uns im Team hat sich verändert, ganz klar. Ich vermisse es sehr, dass wir nicht zusammen an einem Board oder an einem Bildschirm arbeiten können. Dass die reale Interaktion fehlt. Aber wir schauen uns mehrmals am Tag in die Augen, teilen unsere Screens, halten an unserem Daily fest und führen regelmäßig den Virtual Coffee und das Lunch & Learn durch. Zum Glück hatten wir unsere komplette IT-Infrastruktur schon vor Corona komplett auf Cloudlösungen umgestellt, so war der Wechsel ins Home Office keine große Sache. Wir haben einfach weitergearbeitet. Aber wir brauchen dringend wieder echte Begegnungen und Gespräche beim Mittagessen im Innenhof.
Wie ist deine Vorstellung von Zusammenarbeit in einer Post-Lockdown-Ära?
ML — Ich stelle mir vor, dass wir einerseits weiterhin die verbindlichen virtuellen Formate ernst nehmen und gleichzeitig konsequenter auf die Persönlichkeiten eingehen. Das ist ja kein Widerspruch. Manche brauchen die Ruhe daheim, manche die Geselligkeit im Büro und das 5-Minuten-Gespräch an der Kaffeemaschine. Manche brauchen klare Strukturen bis hin zu exakten Stundenbuchungen für ihr eigenes Ordnungsbedürfnis, andere arbeiten freier und empfinden Strukturen als Korsett. Meine Aufgabe ist, die Teams so zu koordinieren, dass alle sich darin wiederfinden, und den Teams alle nötigen Freiheiten zu geben. Am Ende zählt, dass jeder Einzelne auf seine Weise die Verantwortung dafür übernimmt, dass wir gemeinsam einen geilen Job machen.